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Seit Putins Vollinvasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ringt das demokratische Europa nicht nur mit diesem fundamentalen Angriff auf seine territoriale Integrität, sondern auch mit seiner Geschichtsphilosophie. Pflichtschuldig wird in politischen Reden eingestanden, man habe sich geirrt in der Überzeugung, die Zeitenwende von 1989 markiere ein „Ende der Geschichte“ und Demokratie, Freiheit und Frieden würden sich in geschmeidigem Automatismus über den Globus ausbreiten. Nichtsdestotrotz gerät die Auseinandersetzung mit der post-posthistorischen Gegenwart oft erstaunlich unhistorisch: Obwohl Einigkeit herrscht, dass Putins Angriffskrieg kein einmaliger Systemfehler ist, sondern nur gewaltsamstes Symptom eines „Epochenbruchs“, den verschiedenste Akteure auf internationaler wie nationaler Bühne ins Werk setzen, fehlt die Beschäftigung mit dem ideologischen Treibstoff dieser neuen historischen Kräfte. Allzu oft werden sie unterschiedslos ex negativo definiert: als die Mächte des Revisionismus, der Rückabwicklung des Fortschritts in Freiheit, als „Achse der Autokraten“.[1] Außenpolitisch mag diese Rhetorik kurzzeitig funktioniert haben, um die transatlantische Welt hinter der Ukraine und gegen Russland zu versammeln. Aber sie klingt immer hilfloser, je stärker der „normative Westen“ von innen herausgefordert wird, je größer die elektorale Unterstützung dieser Herausforderer ausfällt und je lauter sich diese selbst affirmativ auf die Begriffe von „Freiheit“ und „Demokratie“ beziehen.